<Blättermeldungen zufolge ist der belgische Vorkämpfer am 20. April 1932 an den Folgen einer Magenoperation gestorben.Nur wer Colle persönlich gekannt hat, wird nachempfinden können, wie mich diese Todesnachricht erschüttert hat.
Es gibt viele geistreiche Schachspieler, es gibt viele gute Journalisten, es gibt viele angenehme Menschen — aber einen Menschen, einen Kollegen, einen Freund wie Colle findet man nicht unter Tausenden.
Ich habe ihn genau sieben Jahre lang gekannt. In Baden-Baden 1925 lernten wir uns kennen. Von da an trafen wir dei zahllosen Turnieren zusammen und ich lernte ihn von Turnier zu Turnier höher schätzen. In diesen zahllosen Turnieren habe ich manches gesehen, gehört und miterlebt. Wenn es um Geld und Ruhm, um Ehre und Glück, um Sein oder Nichtsein geht, dann fallen auch die beste Menschen manchmal aus der Rolle, folgen dem Selbsterhaltungstrieb. Das ist natürlich und nicht häßlich. Trotzdem: Colle ist nie aus der Rolle gefallen. Das war bei ihm nicht möglich. Denn seine Höflichkeit, seine Güte, seine ritterliche Selbstlosigkeit — die waren ihm nicht anerzogen, sie saß in seinem Herzen. Im Siegen und Versagen, er blieb ein Kavalier.
Der arme Colle war krank — ich habe ihn nie anders gekannt. Sein glitzernder Geist, seine sonnige Seele saßen in einem mageren, blutleeren Körperchen, welcher ewig vor Kälte zitterte, ewig in Schmerzen gekrümmt war. Nur selten vertrug der Magen einige Bissen fester Nahrung. Und in diesem Zustand Turnier spielen?
Colle spielte. Niemals hörte ich ihn klagen, niemals die Ausrede gebrauchen, er sei krank. Im Gegenteil: er pflegte stets zu beteuern, er fühlte sich durchhaus wohl, und wenn er eine Partie verlor, so führte er dies ausdrücklick auf sein unachtsames Spiel zurück. Aber dabei stand er gewöhnlich in ärztlicher Behandlung.
Colle war nicht sentimental. Er trug sein Leiden als eine ganz private, nebensächliche Sorge, verlangte keinerlei Rücksichten, war stets heiter und zuversichtlich, ein reizender Gesellschafter, aber am Schachbrett ein unerbittlicher Kämpfer von geradezu vorbildlichem Sportgeist und Pflichtgefühl. Jede Partie wurde hartnäckig durchgekämpft. Langwierige, schwere, ermüdende Partien gehörten zu seinem Stil. Colle stand sie mit ungeheurer Willenskraft durch. Sein Geist beherrschte den Körper. Es ereignete sich einmal der Fall, daß Colle besonders schwer zu leiden hatte. Man befürchtete, er müsse jeden Augenblick zusammensacken. Aber Colle spielte gerade an diesem Tage eine besonders schwere Partie und erlangte nach achtstündigem Kampfe eine glatte Gewinnstellung. Sein Gegner gab jedoch wider allgemeines Erwarten nicht auf, sondern brach das Spiel ab. Tags darauf war Hängetag. Statt sich einen Tag auszuruhen, mußte also Colle wider frühmorgens zur Partie, um den Gewinn durchzufüren. Das rücksichtslose Vorgehen seines Gegners wurde allgemein verurteilt, Colle aber machte ihm nicht den leisesten Vorwurf; zitternd und totenbleich kam er um 9 Uhr morgens zur Partie und erfüllte ohne Klage seine Pflicht. Von da an lernte ich ihn bewundern, diesen Schachmeister mit dem Körper eines Todgeweihten und mit dem Geist eines unsterblichen Helden.
Während der letzten Turniere zeigte sich Colle ausnehmend lebensfreudig. Der lyrische Glanz einer zarten Liebe spiegelte sich in seinem Gehaben.
Er war verlobt und erzählte mir oft mit strahlenden Augen von seiner Charlottem von seinem Glück und von seiner Zukunft. Er wolle das unstete Leben eines Schachmeisters aufgeben und wieder ausschließlich Journalistik betreiben. Und er wolle sich vor allen Dingen einer neuerlichen Operation unterziehen, damit seine Gesundheit vor dem Eintritt in die Ehe endgültig hergestellt werde. Voilà!
Edgard Colle, lieber Kollege, teurer Freund! Das Leben hat dir jene einzige Rücksicht verweigert, die du aus ganzem Herzen ersehnt hattest. Wir alle, die dich gekannt haben, trauern dir nach in hilflos bitterem Weh, als wäre uns der nächste Bruder gestorben. Die Zeit mag unseren Schmerz stillen, aber dein Andenken wird uns nie verlassen. Du wirst uns ein Vorbild an Seelenstärke und Ritterlichkeit bleiben. Blank und schön wird dein Name in der Schachgeschichte noch weiterleuchten, wenn die meisten der unsrigen schon längst vergessen sein werden. Und wer deine Freundschaft genossen hat, der darf auf sie bis zu seinem Grabe stolz sein wie auf eine große Tat.
Lebewohl!”>